Es gibt nur zwei Männer, die meine Frau küßt: ihren Gatten und den Mann, der ihre Familie ermordet hat.
"Ich will Ihnen
von einem Mann erzählen, der viel schlimmer war als
Sie. Es wird uns helfen, die Nacht durchzustehen. Es
handelte sich um den Menschen, der die ganze Familie
meiner Frau hingemordet hat. Meine Frau hat ihm ver-
geben, und er wurde einer unserer engsten Freunde. Es
gibt nur zwei Männer, die meine Frau küßt: ihren Gatten und den Mann, der ihre Familie ermordet hat."
Und ich erzählte Gaston, wie sich das zugetragen hatte.
Als Rumänien auf Deutschlands Seite in den Krieg
eintrat, begann ein Pogrom, in dem viele Tausende von
Juden umgebracht oder deportiert wurden. Allein in
Jassy wurden 11 000 an einem Tag niedergemetzelt.
Meine Frau, die meinen christlichen Glauben teilt,
ist auch jüdischer Herkunft. Wir wohnten in Bukarest,
von wo keine Juden deportiert wurden. Aber ihre
Eltern, einer ihrer Brüder, drei Schwestern und noch
309 und ihr zwölfjähriger Bruder sind zusammen mit den
übrigen Familiengliedern umgebracht worden. Sie ha-
ben mir erzählt, daß Sie in der Nähe von Golta Hun-
derte von Juden getötet haben. Man hatte die Familie
meiner Frau dorthin gebracht." Ich sah ihm fest in
die Augen und fügte hinzu: „Sie selbst wissen nicht,
wen Sie erschlagen haben. "Wir können also der An-
nahme sein, daß Sie der Mörder der Familie meiner
Frau sind."
Er sprang in die Höhe, seine Augen loderten. Er sah
aus, als wollte er mir an die Kehle springen.
Ich hob meine Hand und sagte: „Jetzt wollen wir ein
Experiment machen. Ich werde meine Frau wecken und
ihr sagen, wer Sie sind, und was Sie getan haben. Ich
will Ihnen sagen, was dann geschieht. Meine Frau wird
Ihnen keinen einzigen Vorwurf machen. Sie wird Sie
umarmen, als wären Sie ihr Bruder und Ihnen aus dem
Besten, was sie im Hause hat, ein Abendbrot bereiten.
Wenn nun meine Frau, die auch ein sündiger Mensch
ist wie wir alle, in dieser Weise vergeben und lieben
kann, dann stellen Sie sich vor, wie Jesus, der selbst
vollkommene Liebe ist, Ihnen vergeben und Sie lieben
kann. Kommen Sie nur zu ihm zurück und alles, was
Sie getan haben, wird vergeben sein."
Borila war nicht ohne Herz. In seinem Innern
wurde er von Schuld und Verzweiflung über das, was
er getan hatte, verzehrt. Er hatte sein brutales Gerede
uns entgegengehalten wie eine Krabbe ihre Scheren.
Man brauchte seine schwache Stelle nur mit einem Fin-
ger anzutippen, und schon brach sein Widerstand zu-
sammen. Die Musik hatte bereits sein Herz bewegt, und
nun kamen anstatt der Beschuldigung, die er erwartete,
die Worte der Vergebung. Seine Reaktion war er-
staunlich. Er sprang auf und zerrte mit beiden Händen
an seinem Kragen, so daß sein Hemd zerriß. „O Gott,
was soll ich tun, was soll ich nur tun?" rief er. Er barg
312 seinen Kopf in den Händen und schluchzte laut, sich hin
und her werfend. „Ich bin ein Mörder, ich bin mit
Blut getränkt, was soll ich nur tun?" Tränen liefen ihm
die Wangen herunter.
Ich rief aus: „In dem Namen des Herrn Jesu Christi
gebiete ich dem Teufel des Hasses aus deiner Seele
auszufahren!"
Borila fiel zitternd auf die Knie, und wir fingen an,
laut zu beten. Er kannte keine Gebete. Er bat einfach
immer und immer wieder um Vergebung und sagte, er
hoffe und wisse, daß sie ihm gewährt wird. Eine ganze
Zeit lagen wir zusammen auf den Knien. Dann stan-
den wir auf und umarmten uns. Ich sagte: „Ich habe
versprochen, ein Experiment zu machen. Ich werde
mein Wort halten."
Ich ging in das andere Zimmer und fand meine Frau
immer noch sanft schlafend. Sie war zu dieser Zeit sehr
schwach und erschöpft. Ich weckte sie vorsichtig und
sagte: „Hier ist ein Mann, den du kennenlernen mußt.
Wir glauben, daß er deine Familie ermordet hat, aber
er hat es bereut und ist jetzt unser Bruder."
In ihrem Morgenrock kam sie heraus und streckte
ihre Arme aus, um ihn zu umarmen. Dann fingen die
beiden an zu weinen und einander immer und immer
wieder zu küssen.
Nie habe ich ein Brautpaar sich mit solcher Liebe,
Innigkeit und Reinheit küssen sehen wie diesen Mör-
der und die Überlebende seiner Opfern. Dann, wie ich
vorausgesagt hatte, ging Sabine in die Küche, um ihm
etwas zu essen zu holen.
Während sie weg war, kam mir der Gedanke, Borilas
Verbrechen seien so furchtbar gewesen, daß noch eine
weitere Lektion erforderlich wäre. Ich ging ins andere
Zimmer und kam zurück mit meinem damals zweijähri-
gen Sohn Mihai. Er schlief weiter in meinen Armen.
Erst vor einigen Stunden hatte Borila damit geprahlt,
313 wie er jüdische Kinder in den Armen ihrer Eltern er-
schlagen hatte. Jetzt war er außer sich vor Entsetzen.
Der Anblick war ihm eine unerträgliche Anklage. Er
dachte, ich wollte ihn beschuldigen. Doch ich sagte:
„Sehen Sie, wie ruhig er schläft? Sie sind auch ein neu-
geborenes Kind, das in den Armen seines Vaters ruhen
kann. Das Blut, das Jesus vergossen hat, hat Sie rein
gemacht."
Borilas Freude war herzbewegend. Er blieb bei uns
über Nacht, und als er am nächsten Morgen erwachte,
sagte er: „Es ist schon lange her, seit ich so gut ge-
schlafen habe." Augustinus sagt: „Anima humana
naturaliter christiana est" — die menschliche Seele ist
von Natur aus christlich. Verbrechen sind gegen die
eigene Natur. Sie sind das Ergebnis der gesellschaft-
lichen Umstände oder können auch viele andere Ur-
sachen haben. Welch eine Befreiung ist es aber, sie ab-
zuwerfen, wie Borila es getan hatte.
An jenem Morgen wollte Borila gern unsere jüdi-
schen Freunde kennenlernen, und ich nahm ihn mit zu
vielen jüdisch-christlichen Familien. Überall erzählte er
seine Geschichte und wurde wie der heimgekehrte ver-
lorene Sohn aufgenommen. Mit einem Neuen Testament
versehen, das ich ihm gegeben hatte, ging er in eine
andere Stadt, um sich seinem Regiment wieder anzu-
schließen.
Später kam Borila wieder zu uns und teilte mit, daß
seine Einheit an die Front geschickt würde. „Was soll
ich nun machen", fragte er, „ich muß wieder anfangen
zu töten."
Ich sagte ihm: „Nein, Sie haben bereits mehr Men-
schen getötet, als einem Soldaten zugemutet werden
kann. Ich bin nicht der Meinung, daß ein Christ sein
Land nicht verteidigen soll, wenn es angegriffen wird.
Aber Sie persönlich sollten nicht mehr töten. Lassen
314 Sie es lieber zu, daß andere Sie töten. Das verbietet die
Bibel nicht."
aus Seite 309
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