Freitag, 2. Dezember 2016

Die Fragen Eine zweite Frage Eine dritte Frage

Die Fragen 

  • Wie kann meine heutige Sünde tödlich sein für einen Menschen, der vor 2000 Jahren gelebt hat?“ So fragte mich einmal eine Theologiestudentin in einem Seminar zu gegenwärtigen Fragen der „Christologie“, also der Lehre von Person und Heilswerk Jesu Christi. Die Studentin war die Tochter eines lutherischen Pastors und ist heute selbst Pastorin in der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche. Sie zweifelte keinen Augenblick an dem Satz des Glaubensbekenntnisses:
    „…für uns gekreuzigt, gestorben und begraben“. Aber sie wollte das nicht nur gedankenlos nachsprechen, sondern sie wollte wissen, wie man das verstehen kann. Wie kann das zugehen: Ein Mensch stirbt nicht nur stellvertretend für die Schuld seiner Umgebung, vielleicht für die historische Schuld einer ganzen Generation, eines ganzen Volkes, sondern vorwegnehmend für alle Schuld, die Menschen anschließend in der weitergehenden Menschheitsgeschichte noch auf sich laden werden? Das ist die erste Frage, die sich stellt, wenn wir beten: „ … für uns gekreuzigt“. 
  • Eine zweite Frage schließt sich dicht an: Kann denn ein Mensch, und wäre er selbst Mensch und Gott in einer Person, wie die Christen es von Jesus Christus bekennen, die Schuld eines anderen und gar der vielen anderen auf sich nehmen und sich an ihrer Stelle dafür bestrafen lassen? Es kann jemand für einen anderen einen materiellen Schaden wieder gutmachen und insoweit dessen Schuld „sühnen“. Aber unsere Schuld vor Gott, ganz deutlich: Unsere Sünde ist kein materieller Schaden, sondern ein ganz persönliches Ereignis: ein zerbrochenes Verhältnis von Person zu Person, eine – wenn es wirkliche Sünde ist – bewusst abgebrochene Beziehung zu Gott. Kann ich eine solche abgebrochene Beziehung auf einen anderen Menschen übertragen? Kann ein anderer Mensch, der seinerseits diese Beziehung gerade nicht abgebrochen hat, die abgebrochene Beziehung von mir übernehmen? Und wenn er dann die Strafe dafür auf sich nimmt, wie soll das mir zugute kommen, wenn ich doch frei bin und bleibe, die Beziehung zu Gott neu zu versuchen oder es auch zu lassen? 
  •  Eine dritte Frage drängt sich dann erst recht auf: Warum muss denn überhaupt solche Strafe sein? Wenn Gott uns schon mit unserer Schuld nicht allein lassen, sondern sich trotz unserer Schuld und im Voraus zu all unserem Tun uns wieder zuwenden will, warum kann er sich nicht einfach erbarmen? Es gibt hier, im Bereich personaler Beziehungen, nichts zu „kompensieren“. Muss Gott sozusagen erst Blut sehen, ehe er uns wieder gnädig sein kann? Nach wie vor können uns die zornigen Worte des berühmten liberalen Theologen Adolf von Harnack in seinem zwischen 1886 und 1890 veröffentlichten dreibändigen „Lehrbuch der Dogmengeschichte“ unter die Haut gehen: „Ist es nicht ein schrecklicher Gedanke, dass Gott das grässliche Vorrecht vor den Menschen habe, nicht aus Liebe vergeben zu können, sondern stets Bezahlung (zu brauchen)?“ (ebd. III, 408). Und wer es Harnack nicht abnehmen mag, halte sich an Joseph Ratzinger: „Von manchen Andachtstexten her drängt sich dem Bewusstsein dann geradezu die Vorstellung auf, der christliche Glaube an das Kreuz stelle sich einen Gott vor, dessen unnachsichtige Gerechtigkeit ein Menschenopfer, das Opfer seines eigenen Sohnes verlangt habe. Und man wendet sich mit Schrecken von einer Gerechtigkeit ab, deren finsterer Zorn die Botschaft von der Liebe unglaubwürdig macht“ (Einführung in das Christen- tum, Neuausgabe München 2000, 264).

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